Ziegenplan plus Prioritätsproblem

Nun also Zwergziegen. Für Belinda und Coldie.
Du willst doch nicht im Ernst, höre ich Lelas Zwischenruf.
Doch, natürlich kann ich im Ernst die Freude beschreiben, die unwillkürlich der Begegnung mit diesen Tieren entspringt: So possierlich sind sie. Selbständige kleine Unternehmer, zugleich brüderlich-schwesterlich einander zugetan. Und so unermüdlich im Sport. Und hungrig, müde, schläfrig wie wir Menschen. Und so verletzbar im Schlaf.
Außerdem kann ich ganz im Ernst eine Liste von Pflichten erstellen, die Zwerziegen ihren Menschen aufhalsen: füttern, tränken, Unterstand errichten und saubermachen (täglich!), Futterschüsseln reinigen, Hügel aufschütten zum Klettern. Berge aus Ästen und Steinen konstruieren. Geborgenheit spenden und zurückgeschenkt bekommen. Dabei immer wachsam sein und spüren, ob sie gesund oder auf eine noch ungewisse Art suboptimal-drauf sind.
Nur noch das, Lela, das Wichtigste: Im Lauf der Monate und Jahre würden Coldie und Belinda vielleicht so wie Zwergziegen zielbewusst nach oben streben, doch mit dem Wunsch, wieder festen Boden unter den Hufen zu gewinnen. Sie wären bockig und sanftmütig, ohne sich dessen zu schämen. Beinahe sicher bekämen sie nach und nach auch ein dickes Fell. Nur Freunde dürften es zerwuscheln oder Zöpfe daraus flechten und mit Zärtlichkeit durchdringen bis zur Haut.
Lela, wenn du dich wunderst, warum ich mich in Gedankenspielen für fremde Kinder verliere, obwohl meines mir viel näher sein sollte, antworte ich darauf: Es ist mir nah. Und umgekehrt. Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass es in der Ferne mitten in unwirtlicher Gegend, wo  man Mühe hat, in Bretterverschlägen Angelschnüre, Tomatensugo, Bier und Kälberstricke zu finden, eine Briefmarke kaufen konnte? Die es auf einen Bogen kariertes Papier (Notizbuchseite) klebte, das es vorher mit krakeligen Lebenszeichen beschriftet und zusammengefaltet hatte? – Ich bekam den Brief, küsste ihn und fühlte die Nähe von Bierfässern, Konsevendosen und Sohn.

Dieser Zwergziegendialog war ein Gedankenspiel.
Lela ist nicht hier.
Hat nicht angerufen.
Meine Nachrichten an sie flogen ins Leere.
Unruhe.
Trotz allem mein Abendprogramm durchziehen und Zwergziegenwissen aus dem PC locken?
Nein. Lela-Suche wichtiger.
Suchen sinnlos. Sie ist eine erwachsene Person.
Zusammen sind wir zwei erwachsene Personen. Mit Vergangenheit: Reisen, Streiten, Übermut. Lieder durch die Nacht grölen: Norwegian woods. Lucy in the sky with diamonds.
Himmel  hat dich immer fasziniert. Soll ich dich dort suchen?
Würdest du mich suchen? – Diese Frage ist unzulässig.
Aber, was ist nun wirklich zu tun? –
Wachsam sein und Geborgenheit schenken. Und bloß kein dickes Fell bekommen.

 

 

 

 

Was Positives. Die Notiz. Der Wald.

Zuerst Ordnung schaffen oder nicht oder zuerst Tee oder die Pfänzchen auf dem Fensterbrett gießen oder doch im Zustand zwischen Nacht und Tag dahindämmern? – Nein, Nachrichten checken: Der Gnadenhof meiner Sympathie hat zwei ausgediente, alte Milchkühe vorm Schlachthof gerettet.
Das ist gut. Eine zielgerichtete Handlung. Keine Zweifel. Maximal positives Ergebnis.
Und dann der Anruf von Lela: „Heute Abend mal groß ausgehen? Ich muss dir was erzählen.
Erzähl’s mir gleich“, sage ich zweifellos-positiv. – „Nein. Heute.“
Heute geht nicht. Am Nachmittag hüte ich Belinda und Coldie. Das teile ich der Lela mit. Und sie sagt, dass auf den anstrengenden Nachmittag ein freier Abend folgen soll.
Und ich: „Nach dem Hüten lasse ich’s ausklingen. Das Lachen, das Streiten und Kichern. Es lässt mir keine Zeit, vor der Verabredung mit dir zu mir zu kommen, das Vorklingen auszukosten, und, sozial fit, noch dazu frisch gekämmt, nein, das geht nicht, das passt nicht.“
Lela versteht. Sie sagt, dass sie ein bisschen traurig ist. Ich sage nicht, dass ich sehr traurig bin. Und sehe, wie sie vielleicht ihre dunklen, melierten Strähnchen durch die Finger gleiten lässt.
„Morgen. Wir telefonieren uns zusammen.“ Auseinander, verstehe ich.

Auf dem Weg zu Coldie und Belinda biege ich zerstreut? falsch ab. Links ein Bach, rechts die Rückseiten der kaum noch gepflegten Siedlungshäuser. Hinter dem Müllplatz schleppt eine alte Frau in Kleiderschürze ihren Kübel mit sich. Ein Hund möchte ausbrechen. Ich bin schuld an seiner Gefangenschaft oder was. Irrtum, Hund. Lass dir was einfallen. Wer kommt mir entgegen, ich bin nicht neugierig. Er aber schaut mich listig an, tut zwei Schritte näher, sein Atem riecht nach einem Getränk, dessen Farbe und Aroma ich nicht kennenlernen möchte. Der Mann bleibt stehen. Meint nicht mich, oder. Weil, ich weiter – Er hält mir einen Zettel hin: Hier nicht steht drauf. Der Rest unleserlich.
Das Unerfreuliche, Abweisende in dieser Gasse setzt mir immer noch zu, als ich längst durch die Allee von Linden weitergeh. Alles kahl. Immerhin, keine hält mir betrunkene Notizen unter die Nase.

Bleibt am Waldrand.
Die Mama hat es gesagt, dabei Coldie übers Haar gestreichelt. Belinda hat die Augen verdreht.
Am Waldrand. Wo leben wir. Es steckt uns doch in den Genen, alles zu erforschen, was tief und dunkel ist: Den Wald und sein Herz, seine Lunge, sein Gerippe. Und die Höhlen der Erde. Den Sternenhimmel. Und die schwarzen Flecken auf deiner meiner Landkarte.
Der Spielplatz ist schnell fertigespielt. Und? Nun?
„Wollt ihr Rindenschiffchen basteln?“ – „Warum?“ – „So halt.“
Coldie geht, Stöckchen suchen, um damit die Luft zu bekämpfen.
Ich muss mir was einfallen lassen.
Mir fällt nichts ein.
Inzwischen hat Belinda eine Fliege befreit, die in einem Jausensäcken gefangen war, das so ein Lümmel weggeworfen hat. Mit Leberwurstresten drin.
Retten ist gut. Ich lese Föhrenzapfen auf, und Hölzchen und einen von der Natur kunstvoll geformten Zweig.
„Da, die arme Hirschkuh kann nicht mehr gehen“, sage ich.
Belinda versteht sofort. Sie ernennt Coldie zu ihrem Assistenten, und nun wird alles gerettet und geheilt, was mit einem Fuzzel Fantasie Kopf, Bauch, Beine und Schwänzchen hat.
Ich muss nur zuschauen und mich an ihrem Ernst erfreuen. Manchmal darf ich medizinische Fachausdrücke einwerfen. Dann doch lieber schweigen und mit Gestrüpp und Baumstumpf verschmelzen. So fällt mir auf, wie überlegt, konzentriert und selbstbewusst die Kinder vorgehen. Retten bewirkt Reife?!
Es macht nicht die Opfer arm und klein, sondern die Akteure groß und reich.
„Frau Dooookktaa“, zerbrüllt Coldie meine Gedanken, „Zicklein hat Blinddarm!“
Zicklein. Klingt so niedlich. Obwohl schon junge Zicken versteckte, kleine Hörner haben. Und einen Willen, der Stahl durchdringt.
Zicklein zeigt mir den Weg. ‚
Es gibt viel zu tun in den nächsten Wochen.

 

 

 

Die Zwei

Aufwachen kann richtig Spaß machen. Sich lösen aus dem Nebel eines vergessenen Traumes, raten, was draußen bellt oder biket oder traktorfährt. Kein Spaß  ist es, den Aufgaben des Tages auszuweichen. Sich’s in der Nacht bequem machen – heute nicht. Da ist etwas Neues. Es riecht nicht, es macht auch kein Geräusch. Kein Wind hat es dahergeweht, es klopft natürlich auch nicht an die Tür, doch es ist da und sagt: Der Tag wird gut. Lela wird anrufen. Mein alter, reparierter Plattenspieler wird beim gefühlt 245. Startversuch wieder funktionieren. Und, eime Nachricht wird melden, dass Belindas Erkältung überstanden ist.

Belinda ist Coldies Schwester. Es sind nicht meine Kinder. Nicht Neffe, Nichte oder Enkel. Kleine Menschen sind es, ausgestattet mit vonehmen und garstigen Eigenschaften und dem Willen, alles aus einem Tag herauszuholen, bis er, ausgelaugt und schwach, zu Ende geht. So sind die Zwei: naiv – gutmütig – lästig – manchmal entsetzlich doof – laut sowieso – sportlich, naja – mütig und übermütig – hilfsbereit – listig – hinterlistig – geistvoll – freigeistig und voll Hunger nach Wissen am Wegrand und Kuchen mit Schokocreme.
Belinda und Coldie leben am Rand einer Kleinstadt, ungefähr fünfzehn Minuten von mir entfernt. Belinda wird zehn und hat Ansprüche. Kinderkram geht nicht mehr. Kram der Großen interessiert sie noch nicht, ein Glück. Mager ist sie. Macht sie doch alles wie auf Speed. Dann denkt sie wieder und sinnt, sodass man denkt: O, wie sie denkt! Vor allem hat Belinda ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Wird es irritiert, bricht Belinda in Tränen aus und tobt wie eine Dreijährige. – Coldie heißt in Wahrheit Frieder. Als Kleinkid reageirte er auf Späße seiner Erwachsenen mit total cooler Zurückhaltung. Deswegen: Coldie. Inzwischen ist er acht und weiß, wann er aus seiner Reserve ins Freie will. Es heißt, aus ihm werde später ein unnahbarer Chef. Oder Bergsteiger. Einzelkämpfer auf jeden Fall. Wie passt das zu seiner Lust, sich mit den Nachbarhunden herumzubalgen? „Das geht gar nicht“, sagt sein Vater. „Man weiß nicht, wann in einem Hund sein altes Raubtierherz zu schlagen beginnt.“ Coldie versteht das. Kinder verstehen fast immer alles. Sie sagen den Eltern gute Nacht und hören im Vorbeigehen sekundenlange Nachrichtenfetzen über 300 000 Obdachlose nach dem Erdbeben in der Türkei. Belinda und Coldie spüren noch auf der Treppe, wie die Eltern den Atem anhalten, wie sie ihren Blicken ausweichen, um nicht in verzeifeltem Mitgefühl zugleich diese entsetzliche Lähmung zeigen zu müssen.
Coldie und Belinda haben die Worte vergessen. Doch die hocken nun verwandelt, dick und grau auf den Bettdecken.

Warum ich das weiß, obwohl ich nicht dabei war? – Weil in jedem Kind ein kleiner Detektiv auf der Lauer liegt. Er schreit auf und meldet, wenn ein Wort durch unnatürlichen Klang zum Fremdwort wird. Wenn sich leise Untertöne überlegen hervortun. Wenn eine der tausend Lächelvariationen Dunkles deckt…
Warum macht Mama so ein Gesicht? – „Sie ist müde. Komm schon, lauf raus zum Spielen.“

Im Kinderzimmer regt sich’s noch. Hier ein Aufseufzen. Im Bett daneben ein Gemurmel, eine kleine Furcht vor der Finsternis.
Mutter kommt, zum Gutenachtkuss. Das Dicke, Schwere macht sich leicht, löst sich auf.
Gut, wenn die Kinder endlich schlafen und von vergleichsweise harmlosen Wesen träumen. Von Schulfreunden und anderen Wölfen.

Am Ende wird der Tag wirklich gut: Belinda ist wieder gesund. Und, morgen soll ich was-tun mit den beiden, sagt ein Anruf. Danach schickt Lela SMS: Morgen mehr von mir! Smile!
Und das noch: Auf dem alten Plattenspieler dreht sich Mozarts Sinfonia Concertante für Violine und Viola.

 

 

 

 

 

 

 

Hintergrundblind

Als ich ein Mädchen von neun Jahren war, musste ich immer und immer noch zu Mittag ruhen. Ich hörte die Stimmen der anderen Kinder, sie spielten, sie gingen zum Schwimmen, und ich war unblücklich, nicht mittendrin zu sein,
Abends schlafengehen war in Ordnung. Manchmal rauschten Bäume im Wind, oder im Holz knackste es, aber das machte nichts. Das Dunkel der Nacht war eine freundliche Kugel, die vor Dämonen schützte und vor den Mäusen in der Vorratskammer.

Jetzt bin ich viel älter und ruhe und schlafe gerne zu Mittag. So eine Freude, wenn ich draußen-umherfliegende Gesprächsfetzen und den Gedankensalat in mir für nichtig erklären kann, wenn der Schlaf alles, alles zum Schweigen bringt und den hellen Tag einfach ausknipst.

Rückblickend mit Durchblick wurde mir der Betrug von viel-früher endlich klar: Kinder und andere Menschen schliefen einen naiven, Jahre dauernden Traum, während im Untergrund der kalte Krieg schwelte. Was ist es heute, das hinter der Sorglosigkeit der Schlafenden rumort? Ich meine das für uns Unsichtbare, Verschwiegene. Kein Nachrichtendienst dürfte es erwähnen. Soziale Medien würden unter der Last verbotener Berichte von Kurzschlüssen getötet. Den Menschen wüchse im Nu eine Schutzschicht aus eisernem Nein.

Ich aber möchte ungeschützt stärker werden. Standhaft wie ein Baum. Schwach-sein dürfen, ohne dass es zum Angriff reizt.
Was für ein Privileg, sich ohne Ernstfall um Widerstandskraft bemühen zu dürfen.
Wie arm, wie reich sind Kinder, die im Vertrauen auf alles ist gut dem wilden Leben ausgesetzt sind? Wann dürfen wir ihnen das Andere in verträglichen Portionen zumuten? Schiffe, die sinken. Explosionen. Blut. Sturm. Das Beben, wenn nahe Menschen zwischendurch selbst  zum Unwetter mutieren.
Wer dichtet ein Wiegenlied, das aufrührt und tröstet, das wahr ist und doch leise und sanft? Wer komponiert Töne und Zwischentöne, die aus dem Dunkel über Hügel im Sternenlicht führen und alle, auch Belinda und Coldie, in friedlichen Schlaf begleiten?

 

Morgen ist es so weit,

Aufregung in meinem Ensemble? – Keine Spur. Jeder hängt herum, entspannt in seiner Ecke bei harmlosen Getränken. Ich sollte jetzt endlich ein paar Illusionen kaputtmachen. Weil, in der Früh wird jeder im Ansturm seiner frisch aufgelandenen Energien losziehen wollen –
„Hört mal zu“, beginne ich, „unser vorübergehend gemeinsamer Lebensweg führt zwar durch Kleinstadt und Auen, wo mensch seinen Nächsten vertraut und auch die Hunde der Spaziergänger freundlich grüßt. Aber“ – Diese Blicke! – Trotzdem spreche ich weiter, von der Welt jenseits der Hügel, jenseits von gefüllten Kühlschränken und gefühlten hundert Wochen Urlaubsanspruch. In jeder Sekunde, – Erschrecken ringsum im Raum – an jedem Tag können Ereignisse hereinbrechen, die unser Leben, genau, unsere Entspannung bei undefinierbaren Getränken zerstören. Wir werden es einlassen und damit arbeiten müssen. Nur so werde unsere Geschichte funktionieren…
M steht auf. Groß, dunkle Haare. Bissl geheimnisvoll, unauffällig-unbewusst. „Ich bin dagegen“, sagt er. „Die Ereignisse setzen mir zu. Sind destruktiv. Die Welt unserer Vorfahren dagegen war hinter dem übernächsten Gebirge zu Ende. Neuigkeiten, die zu ihnen durchdrangen, waren überschaubar. Man konnte Maßnahmen setzen in der Not, Hochzeitsgeschenke schicken mit Anteilnahme und Wünschen nach reichem Kindersegen, und all das. Ich, und dieses Bekenntnis muss raus, ich fühle mich als Nachfahre von Boten und fahrenden Sängern. Hier ein Besuch, dort ein Nachtlager, ein Song. Und Minne.“
Er hat recht, denke ich.
Er ist im Unrecht. Gestern ist vorbei. Heute, das ist: 26. Februar 2023.
Wir wollen das nicht zerreden. Spüren kommt früh genug. Aus, Ende. Das Ensemble muss ausgeruht sein für das, was kommt. Auch wenn es morgen nur am Rande beobachtet, hört, liest.
Die zwei Kinder, die mitsspielen, schlafen längst. Ihre Eltern auch. Es ist ein leichter, hellhöriger Schlaf, mit Antennen zum lautlosen Atmen der Kleinen.