Die Zwei

Aufwachen kann richtig Spaß machen. Sich lösen aus dem Nebel eines vergessenen Traumes, raten, was draußen bellt oder biket oder traktorfährt. Kein Spaß  ist es, den Aufgaben des Tages auszuweichen. Sich’s in der Nacht bequem machen – heute nicht. Da ist etwas Neues. Es riecht nicht, es macht auch kein Geräusch. Kein Wind hat es dahergeweht, es klopft natürlich auch nicht an die Tür, doch es ist da und sagt: Der Tag wird gut. Lela wird anrufen. Mein alter, reparierter Plattenspieler wird beim gefühlt 245. Startversuch wieder funktionieren. Und, eime Nachricht wird melden, dass Belindas Erkältung überstanden ist.

Belinda ist Coldies Schwester. Es sind nicht meine Kinder. Nicht Neffe, Nichte oder Enkel. Kleine Menschen sind es, ausgestattet mit vonehmen und garstigen Eigenschaften und dem Willen, alles aus einem Tag herauszuholen, bis er, ausgelaugt und schwach, zu Ende geht. So sind die Zwei: naiv – gutmütig – lästig – manchmal entsetzlich doof – laut sowieso – sportlich, naja – mütig und übermütig – hilfsbereit – listig – hinterlistig – geistvoll – freigeistig und voll Hunger nach Wissen am Wegrand und Kuchen mit Schokocreme.
Belinda und Coldie leben am Rand einer Kleinstadt, ungefähr fünfzehn Minuten von mir entfernt. Belinda wird zehn und hat Ansprüche. Kinderkram geht nicht mehr. Kram der Großen interessiert sie noch nicht, ein Glück. Mager ist sie. Macht sie doch alles wie auf Speed. Dann denkt sie wieder und sinnt, sodass man denkt: O, wie sie denkt! Vor allem hat Belinda ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden. Wird es irritiert, bricht Belinda in Tränen aus und tobt wie eine Dreijährige. – Coldie heißt in Wahrheit Frieder. Als Kleinkid reageirte er auf Späße seiner Erwachsenen mit total cooler Zurückhaltung. Deswegen: Coldie. Inzwischen ist er acht und weiß, wann er aus seiner Reserve ins Freie will. Es heißt, aus ihm werde später ein unnahbarer Chef. Oder Bergsteiger. Einzelkämpfer auf jeden Fall. Wie passt das zu seiner Lust, sich mit den Nachbarhunden herumzubalgen? „Das geht gar nicht“, sagt sein Vater. „Man weiß nicht, wann in einem Hund sein altes Raubtierherz zu schlagen beginnt.“ Coldie versteht das. Kinder verstehen fast immer alles. Sie sagen den Eltern gute Nacht und hören im Vorbeigehen sekundenlange Nachrichtenfetzen über 300 000 Obdachlose nach dem Erdbeben in der Türkei. Belinda und Coldie spüren noch auf der Treppe, wie die Eltern den Atem anhalten, wie sie ihren Blicken ausweichen, um nicht in verzeifeltem Mitgefühl zugleich diese entsetzliche Lähmung zeigen zu müssen.
Coldie und Belinda haben die Worte vergessen. Doch die hocken nun verwandelt, dick und grau auf den Bettdecken.

Warum ich das weiß, obwohl ich nicht dabei war? – Weil in jedem Kind ein kleiner Detektiv auf der Lauer liegt. Er schreit auf und meldet, wenn ein Wort durch unnatürlichen Klang zum Fremdwort wird. Wenn sich leise Untertöne überlegen hervortun. Wenn eine der tausend Lächelvariationen Dunkles deckt…
Warum macht Mama so ein Gesicht? – „Sie ist müde. Komm schon, lauf raus zum Spielen.“

Im Kinderzimmer regt sich’s noch. Hier ein Aufseufzen. Im Bett daneben ein Gemurmel, eine kleine Furcht vor der Finsternis.
Mutter kommt, zum Gutenachtkuss. Das Dicke, Schwere macht sich leicht, löst sich auf.
Gut, wenn die Kinder endlich schlafen und von vergleichsweise harmlosen Wesen träumen. Von Schulfreunden und anderen Wölfen.

Am Ende wird der Tag wirklich gut: Belinda ist wieder gesund. Und, morgen soll ich was-tun mit den beiden, sagt ein Anruf. Danach schickt Lela SMS: Morgen mehr von mir! Smile!
Und das noch: Auf dem alten Plattenspieler dreht sich Mozarts Sinfonia Concertante für Violine und Viola.